Einleitung in die Textkritik

Was stand im Original

Wenn man sich ältere Bibelübersetzungen (z.B. Luther, Revision von 1912) mit neueren (z.B. Luther, Revision von 1984 oder revidierte Elberfelder vergleicht, dann finden sich überrasche Unterschiede.

Zum Teil liegt das einfach am Vokabular des Griechischen. Manche Wörter habe eine gewisse Bandbreite an Bedeutungen und der Übersetzuer sucht sich dann eine davon aus. Ein Beispiel: griechisch „δουλος/doulos“ kann man mit „Sklave“ oder auch mit „Knecht“ übersetzen und in einigen Bibeln steht das eine, in anderen das andere Wort.

Ein anderer Teil hat seinen Grund in der Grammatik. Betrachten wir als Beispiel Matthäus 12,34b. In der Elberfelder Übersetzung steht:

Denn aus der Fülle des Herzens redet der Mund.

Das ist wörtlich übersetzt. Absolut korrekt. In der Luther (1984) heißt es hingegen

Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Das ist frei formuliert, aber treffend und es ist im Deutschen sogar zu einem Sprichwort geworden. Luther hat sich zu diesem Vers in seinem „Sendbrief vom Dolmetschen“ ausführlich geäußert.

So wenn Christus spricht: „Ex abundantia cordis os loquitur.“ Wenn ich den Eseln soll folgen, sie werden mir die Buchstaben vorlegen und so dolmetschen: Aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund. Sage mir, ist das deutsch geredet? Welcher Deutsche verstehet solches? Was ist Überfluss des Herzen für ein Ding? Das kann kein Deutscher sagen, es sein denn, er wollte sagen, es bedeute, daß einer ein allzu groß Herz habe oder zuviel Herz habe; wiewohl das auch noch nicht recht ist, denn Überfluss des Herzens ist kein Deutsch, so wenig als das Deutsch ist: Überfluss des Hauses, Überfluss des Kachelofens, Überfluss der Bank, sondern so redet die Mutter im Haus und der gemeine Mann: Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über. Das heißt gutes Deutsch geredet, des ich mich beflissen und leider nicht allwege erreicht noch getroffen habe, denn die lateinischen Buchstaben hindern über die Maßen sehr, gutes Deutsch zu reden.

Für ihn war die wörtliche Übersetzung also schlichtweg kein Deutsch. Für uns heute, die wir gelernt haben, bürokratischen Nominalstil zu ertragen und sogar selbst zu gebrauchen („wir haben diese Entscheidung getroffen“ statt „wir haben entschieden“) mag die Lage anders sein. Uns stößt „aus dem Überfluss des Herzens“ nicht mehr so unangenehm auf wie zu Luthers Zeiten.

Andere Unterschiede sind komplizierter. Da fehlen in neueren Bibeln Wörter, Sätze und sogar ganze Verse. Ein Beispiel: Apostelgeschichte 8,35-38

Apg 8,36 Als sie aber auf dem Weg weiterzogen, kamen sie zu einem Wasser, und der Kämmerer sprach: Siehe, hier ist Wasser! Was hindert mich, getauft zu werden?
Apg 8,37 Da sprach Philippus: Wenn du von ganzem Herzen glaubst, so ist es erlaubt! Er antwortete und sprach: Ich glaube, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist!
Apg 8,38 Und er ließ den Wagen anhalten, und sie stiegen beide in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn.
Apg 8,39 Als sie aber aus dem Wasser heraufgestiegen waren, entrückte der Geist des Herrn den Philippus, und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; denn er zog voll Freude seines Weges.

Der hier fett markierte Teil ist in alten Übersetzungen mit dabei, in neueren fehlt er.

Was ist die Ursache für solche Unterschiede?

Die Ursache ist einfach, und doch wieder nicht. Die Originale der Bibel sind uns nicht erhalten. Das Papier, auf dem Lukas seine Apostelgeschichte aufgeschrieben hat, gibt es nicht mehr. Wir haben nur Abschriften (von Abschriften, von Abschriften) der Originale. Und diese Abschriften (damals gab es ja auch noch keine Druckerpresse) unterscheiden sich. Es gibt Bibelhandschriften aus alter Zeit mit diesem Vers und solche ohne ihn. Was soll man da nun machen? Als Leser oder gar als Bibelübersetzer?

Hier wird dem Bibelübersetzer nun eine einfache Lösung angeboten, und die geht so: „Lieber Übersetzer, das ist doch für dich alles zu kompliziert. Du kannst diese Entscheidung doch gar nicht selbst treffen. Überlass das Leuten, die sich damit auskennen. Die haben das alles schon durchdacht. Du kannst dich darauf verlassen und kannst darauf aufbauen und dich ganz auf deine Übersetzung konzentrieren.“

Das Buch, in dem diese Entscheidungen drinstehen, heißt Novum Testamentum Graece. Es wurde von Eberhard Nestle (Nein, das war nicht der mit der Schokolade) begründet, von seinem Sohn Erwin Nestle und später von Kurt Aland weiter bearbeitet und erscheint mittlerweile in der 27. Auflage. Und in Nestle-Aland (NA27) fehlt Apg 8,37.

Der Streit um den Textus Receptus

Nach einem Abkommen zwischen dem Vatikan und den United Bible Societies liegt der von Nestle-Aland erstellte Text allen Bibelübersetzungen und Überarbeitungen in ihrem Bereich zugrunde. Also fast allen neuen Bibelübersetzungen weltweit, die es überhaupt gibt.

Allen? Man fühlt sich ein wenig an Asterix erinnert:

Wir befinden uns im Jahre 50 v. Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt …Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die römischen Legionäre, die als Besatzung in den befestigten Lagern Babaorum,Aquarium,Laudanum und Kleinbonum liegen…

Irgendwann ist es einigen Leuten aufgefallen, dass sich in den Bibeln etwas verändert hatte. Und für diese Christen war der Fall klar: alt ist gut, neu ist verfälscht. Und wer von der Bibel etwas wegnimmt, der kann in Offenbarung 22,19 schon einmal nachlesen, was ihm blüht. Und diese Christen wollten gerne Bibelübersetzungen behalten, die auf dem sogenannten Textus Receptus beruhen, also auf demjenigen griechischen Text, der den Bibelübersetzungen der Reformationszeit zugrunde liegt.

Die Anhänger von Nestle-Aland reagierten verschnupft und grob zusammengefasst mit „unsere Arbeit ist wissenschaftlich, wir haben recht und ihr keine Ahnung.“

In den USA kocht dieser Streit (zumeist nach dem Motto „King-James-Version only“) schon seit langem.

Es kam, was kommen musste: Nach dem T-Shirt, dem Surfbrett, dem Computer, ganzen christlichen Konfessionen (darunter auch meiner, den Adventisten) ist mittlerweile auch der Streit darum, was wirklich im griechischen Original des NT stand, über den großen Teich geschwappt und bei uns in Deutschland angekommen.

Ein wichtiger Beitrag zu diesem Streit kam aus Genf, von der Genfer Bibelgesellschaft: Die Schlachter-2000-Übersetzung. Ursprünglich stammt diese Übersetzung von Franz Eugen Schlachter (1859-1911) Im Jahre 1951 übernahm die Genfer Bibelgesellschaft die Herausgabe und Revision dieser Übersetzung. Die erste Revision unter ihrer Regie wurde 1951 veröffentlicht. 2003 erschien die zweite Revision, ein kleines Erdbeben in der theologischen Landschaft: die Schlachter-2000 übersetzt (anders als die Ausgaben zuvor) nach dem Textus Receptus und dieser Schritt wird im Vorwort auch ausführlich begründet. Da diese Bibelübersetzung insgesamt sprachlich genau aber trotzdem gut lesbar ist, erfreut sie sich zunehmender Beliebtheit.

Meine Entdeckungsreise durch die Welt der Texttypen und der Bibelübersetzungen

Nachdem ich über mehrere Jahre hinweg von unterschiedlichen Seiten auf die Textus Receptus-Diskussion gestoßen war, wollte ich mir gerne meine eigene Meinung bilden. Letzte Anstöße waren

  • Diskussionen in meiner eigenen Kirche, die von einem Adventisten aus Südafrika losgetreten worden waren sowie
  • die Schlachter-2000-Übersetzung, auf die ich in meiner christlichen Buchhandlung gestoßen war und die eben nicht Nestle-Aland sondern dem Textus Receptus folgt.

Ich habe mir eine Ausgabe des Nestle-Aland (27. Auflage, NA27) beschafft. Anhand einer „Fehlerliste“ aus dem Internet bin ich diverse Verse in einem Teil der Evangelien durchgegangen, die ich jeweils in der Schlachter-2000, der Elberfelder (folgt NA27) verglichen habe. Zu diesen Versen habe ich mir dann den „kritischen Apparat“ des NA27 angesehen, in dem aufgeführt wird, welche Handschrift welche Textvariante hat. (Nicht vollständig für alle Handschriften, aber für die wichtigsten.) Die betroffenen Teile (in zumeist Auslassungen) habe ich mir dann in der Schlachter-2000 rot markiert.

Aus der Elberfelder Übersetzung kannte ich einzelne Fußnoten über Abweichungen in den Handschriften. Aus diesen Fußnoten hatte ich geschlossen, dass das ganze keine große Sache war. Aber nun war ich über die Fülle der Unterschiede erstaunt und darüber, dass es eine ganze Reihe von Unterschieden gab, auf die in der Elberfelder nicht hingewiesen wurde.

Ich bin auf dieser Entdeckungsreise durch die Textvarianten des NT auf viele Merkwürdigkeiten gestoßen und ich möchte einige davon auf evermann.de aufzeigen. Eine Reihe von Vorwürfen von extremen Vertretern des Textus Receptus kann ich so nicht bestätigen, aber die Textentscheidungen von Nestle-Aland erscheinen mir an vielen Stellen fragwürdig und ich wundere mich, mit welcher Einseitigkeit Nestle-Aland von vielen frommen Gemeinden im Land verteidigt wird.