Das Buch Mormon ist die zentrale Heilige Schrift der “Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage”. Joseph Smith behauptete, es sei die Übersetzung eines Texts, der sich auf goldenen Platten befand. Der Text auf diesen Platten sei in “reformiertem Ägyptisch” verfasst worden.
Zitate aus dem Buch Mormon über “reformiertes Ägyptisch”
Die Ägyptische Sprache wird schon ganz am Anfang des Buchs Mormon genannt, in 1. Nephi 1:2 schreibt Nephi:
“Ja, ich mache einen Bericht in der Sprache meines Vaters, die aus dem Wissen der Juden und der Sprache der Ägypter besteht.”
Hier wird Ägyptisch sogar als die Sprache von Lehi (dem Vater von Nephi) bezeichnet. Die Familie ist aber eine jüdische Familie. Warum sollte die Sprache der Familie dann Ägyptisch sein?
Hatte Lehi vielleicht lange im Ausland gelebt, womöglich in Ägypten? Nein, denn 1. Nephi 1:4 klärt auf:
“Denn es begab sich zu Beginn des ersten Jahres der Regierung Zidkijas, des Königs von Juda (mein Vater Lehi hatte alle seine Tage zu Jerusalem gelebt), und in demselben Jahr kamen viele Propheten und prophezeiten dem Volk, es müsse umkehren, sonst werde die große Stadt Jerusalem zerstört werden müssen.”
Vergleichen wir das mit 1. Nephi 3:19:
“Und siehe, es ist nach Gottes Weisheit, dass wir diese Aufzeichnungen erlangen, damit wir für unsere Kinder die Sprache unserer Väter bewahren,”
Sprache der Väter bezeichnet hier nicht nur die Sprache von Nephi oder Lehi. Die Mehrzahl “Väter” bezeichnet in der Bibel die Vorfahren über viele Generationen. Oft zurück bis zu Abraham, Isaak und Jakob. Die Sprache der Väter war aber Hebräisch und nicht Ägyptisch.
Das „reformierte Ägyptisch“ passt also nicht zur Bibel und zu der Zeit Lehis, kurz vor der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier.
Gab es Platzprobleme auf den goldenen Platten?
Gegen Ende des Buchs Mormon, in Mormon 9:32-33 wird eine Begründung für die Wahl der ägyptischen Sprache und/oder Schrift geliefert:
„Und nun siehe, wir haben diesen Bericht geschrieben gemäß unserer Kenntnis, in der Schrift, die wir unter uns das reformierte Ägyptisch nennen, die überliefert und von uns gemäß unserer Sprechweise abgeändert wurde.
Und wenn unsere Platten groß genug gewesen wären, so hätten wir hebräisch geschrieben; aber auch das Hebräische ist von uns abgeändert worden; und wenn wir hebräisch hätten schreiben können, siehe, so hättet ihr in unserem Bericht keine Unvollkommenheit gehabt.“
Die Anmerkungen zu diesem Kapitel datieren diesen Text auf ca. 400 n. Chr.
Platzprobleme ist also hier die offizielle Begründung für die Wahl des “reformierten Ägyptisch”. Man wollte mit weniger goldenen Platten auskommen. Die Idee wirkt auf den ersten Blick überzeugend. Hieroglyphen oder irgend ein davon abgeleitetes Schriftsystem braucht weniger Platz. Oder ist das vielleicht zu kurz gedacht?
Nun, diese Behauptung lässt sich tatsächlich überprüfen. Wir können das messen. Wir können uns davon sogar überzeugen, ohne die ägyptische Sprache selbst lernen zu müssen. Und zwar mit Hilfe des Rosetta-Steins. (Wikipedia) Dieser Stein enthält ein Dekret aus dem Jahr 196 v. Chr. Der Text ist gleich dreimal in den Stein gemeißelt. So sieht dieser Stein aus:

Das Dekret wurde in drei Sprachen in Stein gemeißelt:
- oben auf Ägyptisch in Hieroglyphen,
- in der Mitte auf Ägyptisch in der “demotischen Schrift”. Das ist eine Art Schreibschrift für die Hieroglyphen,
- und zuletzt unten auf Altgriechisch, das war zur Zeit der ptolemäischen Herrschaft die Verwaltungssprache.
Dieser Stein war übrigens der Schlüssel zur Entzifferung der Hieroglyphen. Griechisch war gut bekannt. Der Text war hinreichend lang, um das Geheimnis der Hieroglyphen zu knacken.
Man kann an dem Rosetta-Stein den Platzbedarf der drei Schriftsysteme vergleichen.
Übrigens hat auch die ursprünglichere Hieroglyphenschrift gegenüber der griechischen Buchstabenschrift keinen Platzvorteil. Beide belegen praktisch denselben Platz. Der Platzbedarf der Hieroglyphen ist sogar noch größer. Hierbei muss man beachten, dass der Stein oben abgebrochen ist. Aber da man den Inhalt lesen kann, kann man gut abschätzen, wie lang der Text ursprünglich gewesen sein muss. Da fehlt ein ganze Stück vom Hieroglyphentext.
Es ist auch plausibel, dass die Hieroglyhen und auch Demotisch keinen Platzvorteil gegenüber einer Buchstabenschrift haben:
- Die griechische Schrift ist eine Buchstabenschrift mit 24 Buchstaben.
- Demotisch hingegen hat ca. 1000 verschiedene Zeichen. Wenn du zu Hause mal versuchst, 1000 verschiedene Schörkel und Kringel zu malen, dann siehst du schnell, dass die Zeichen größer werden müssen, um überhaupt 1000 verschiedene Zeichen unterscheiden zu können.
Wir schauen uns ein Detail aus dem Rosettastein an, aus dem Grenzbereich zwischen Demotisch (oben) und Griechisch (unten):

Man sieht deutlich: um die große Zahl von demotischen Zeichen unterscheiden zu können, sind diese höher und breiter als die griechischen Buchstaben.
Es gibt keinen Platzvorteil. Das Argument „Ägyptisch spart Platz“ greift also nicht.
Problem: die indianischen Sprachen
Das Buch Mormon präsentiert uns eine amerikanische Welt, in der aus wenigen jüdischen Flüchtlingen, die der bablyonischen Gefangenschaft um 600 v. Chr. gerade noch entkommen sind, ein großes Volk geworden ist. 1000 Jahre später, ca. 400 n.Chr. wird Hebräisch immer noch gesprochen. Die Nephiten sind dann irgendwann von den Lamaniten vernichtet worden. Die Lamaniten sollen dann die Vorfahren der amerikanischen Indianer sein, zumindest eines nennenswerten Teils von ihnen.
Aber was ist mit deren Sprache passiert? Wo ist die geblieben? Keine der indianischen Sprachen zeigt eine Verwandtschaft mit der hebräischen Sprache.
Vergleichen wir das einmal mit den Schwestersprachen des Hebräischen auf dieser Seite des Atlantiks. also mit Arabisch, Maltesisch, Ägyptisch oder Amharisch (in Äthiopien). All diese Sprachen gehören zur Familie der semitischen Sprachen. Sie hatten sich schon VOR der bablyonischen Gefangenschaft voneinander getrennt. Aber noch heute, über 2500 Jahre später, lässt sich die Verwandtschaft noch leicht erkennen: im Vokabular und in der Grammatik. Allgemein bekannt ist wohl:
- Hebräisch: Shalom alechem (Friede sei mit Euch) und das gleichbedeutende
- Arabisch: Salem aleikum
Wenn denn nun Joseph Smith Recht hätte und die Indianer tatsächlich Nachfahren der Israeliten wären – wo ist dann deren semitische Sprache geblieben? Juden haben sogar in der Zerstreuung unter die Völker (nach der babylonischen Gefangenschaft und nach der römischen Eroberung ) ihre Sprache bis heute bewahrt. Warum sollte das in Amerika nicht gelungen sein?
Es überzeugt einfach nicht.
Warum dann “reformiertes Ägyptisch”?
Könnte es einen anderen Grund geben, warum Smith die Existenz des „reformierten Ägyptisch“ behauptet hat?
Jetzt stellen wir uns einmal vor, Joseph Smith hätte goldene Platten gefunden, die auf Hebräisch geschrieben waren. Es hätte kein Wunder, keine Urim und Thummim und erst recht keinen “Seherstein” gebraucht, um die Texte zu lesen. Es hätte gereicht, irgendeinen Juden im US-Bundesstaat New York zu fragen. Vielleicht hätte auch einer der Pastoren der anderen christlichen Kirchen am Ort Hebräisch gekannt? Grundlagen des Hebräischen werden in vielen Kirchen von Pastoren erwartet.
Wenn Smith dann mit einer eigenen Übersetzung aufgetreten wäre, dann hätte man seine Hebräischkenntnisse einfach überprüfen können.
Erst die Behauptung einer ansonsten unbekannten Sprache bedurfte eines Übersetzungswunders. Erst dieses Übersetzungswunder brachte Smith den Rang des Propheten und Kirchenführers ein.
Er verließ sich dabei darauf, dass niemand um 1830, als er das Buch Mormon „übersetzte“, Ägyptisch lesen konnte.
Joseph Smith hat sich damit übrigens geirrt. Nur sieben Jahre vorher gelang mit Hilfe des Rosettasteins in Europa der Durchbruch. Seitdem konnte man in Europa Hieroglyphen und die demotische Schrift lesen. Das Übersetzungswunder Smiths wäre überhaupt nicht nötig gewesen. Das hatte sich aber offenbar bis zu Smiths Wohnort nicht herumgesprochen.
Mein Fazit
Mich überzeugt Smiths Geschichte vom “refomierten Ägyptisch” nicht. Es ist auch überhaupt sonst nicht Gottes Stil, diese Art von Geheimniskrämerei zu pflegen. Im Gegenteil.
Bildquellen:
- Titelbild: David Roberts, 1839 via Wikimedia Commons
- Rosetta-Stein Public Domain via Wikimedia Commons
