Grundsätzliches zur Textkritik

Etwa zu Weihnachten 2006 fand sich Werbung in unserem Briefkasten, Werbung von unserer christlichen Buchhandlung. In Buchempfehlungen wurde ein kleines Buch von Karl-Heinz Vanheiden mit dem Titel „Näher am Original“ empfohlen und ich dachte mir, prima, endlich aus bibeltreuer Quelle ein Buch über die Auseinandersetzung um den Textus Receptus. Über den Inhalt des Buchs war ich dann doch erstaunt, geht es dem Autor doch anscheinend durchgängig darum, die Vertreter des TR „abzuwatschen“.

Was ist, wenn das nicht stimmt? Ich für meinen Teil habe meine Zweifel daran, dass das stimmt. Ich bin mir mittlerweile sogar ziemlich sicher, dass das nicht stimmt und ich möchte ein paar Gründe dafür erklären.

Nach welchen Grundsätzen arbeitet die Textkritik?

Auf den Seiten 89 und 90 dieses Buchs findet sich ein Grundsatzprogramm der Textforschung, das ich in wichtigen Teilen nicht unterschreiben kann.

Die heute verwendeten Methoden der Textforschung könnte man etwa so beschreiben.
1. Die antiken Handschriften werden ausgegraben, Fragmente zusammengefügt, die Schrift wird gegebenenfalls sichtbar gemacht, entziffert und übertragen.

Prinzipiell richtig. Ich wundere mich nur über das „ausgraben“, sicher, manche Handschriftenfragmente wurden tatsächlich ausgegraben, aber zwei der für die Textkritik besonders bedeutsamen Handschriften (Codex Vaticanus und Codex Sinaiticus) wurden schlichtweg in Bibliotheken entdeckt. Gleiches gilt für die allermeisten anderen Handschriften, die man für die Textkritik heranziehen könnte, denen man aber kein Gewicht zubilligen will, nämlich für die Handschriften, die dem Textus Receptus zugehörig sind. „Ausgegraben“ wurden nur wenige Handschriften, denen man aber (meiner Meinung nach zu Unrecht) besonderes Gewicht zumisst.

2. Die Manuskripte werden miteinander verglichen und Abweichungen festgestellt.
3. Die verschiedenen Varianten werden beschrieben und analysiert. Um welche Art von Abweichung handelt es sich? Wie verändert sich der Sinn des Textes?

Die Vorarbeiten für Schritt 4, aber so weit in Ordnung. Aber jetzt wird es spannend.

4. Die Ursprüngliche Lesart wird nach folgenden Regeln ermittelt:
Die Urprüngliche Lesart ist wahrscheinlich die, die am besten das Zustandekommen der anderen Lesarten erklären kann.

Das liegt natürlich auf der Hand. So weit ist das noch richtig. Spannend wird es bei der Frage, wann denn eine bestimmte Lesart das Zustandekommen der anderen am besten erklären kann. In den Unterpunkte von Punkt 4 kommen jetzt die Klopfer, einer nach dem anderen.

Die in grammatischer oder inhaltlicher Hinsicht schwierigere, anstößigere Variante erklärt in der Regel das Zustandekommen der einfacheren Lesart als bewusste oder unbewusste Vereinfachung eines Abschreibers.

Sieh an, wenn die eine Lesart einen offensichtlichen theologischen Fehler enthält, und die andere nicht, dann gilt diejenige Variante mit dem Fehler als original. Das geht natürlich nur, wenn man den Originalautoren (Matthäus, Markus, Lukas etc.) unterstellt, sie hätten nicht gewusst, was sie geschrieben haben und wenn man außerdem unterstellt, Gott hätte nicht aufgepasst, was diejenigen Leute aufgeschrieben haben, die von ihm inspiriert wurden. Dieses Prinzip kratzt deutlich an der Inspiration der Bibel durch den Heiligen Geist, sie beschädigt den Glauben und sie unterminiert das Zutrauen, es in der Bibel mit Gottes Wort zu tun zu haben. Eine Reihe von angeblichen Widersprüchen in der Bibel hat hier ihre Ursache. Die inhaltlich offensichtlich fehlerhafte Variante wurde fälschlicherweise zum Original erklärt.

Die kürzere Lesart erklärt die längere als Auffüllung.

Wenn man den Textus Receptus mit Nesle-Aland vergleicht, dann ist NA oft kürzer als der TR, eben aufgrund dieses Prinzips. Auch hier komme ich nicht mit, besonders wenn ich mir die Schreibgewohnheiten der ersten Jahrhunderte nach Christus ansehe. Man verzichtete auf das Leerzeichen zwischen den Wörtern. Ich weiß nicht, ob man das Leerzeichen noch nicht erfunden hatte, oder ob man meinte, es sich bei den damaligen Preisen von Pergament nicht leisten zu können. Ich halte es für leichter, beim Abschreiben ein Stück Text zu überspringen als ein Stück Text dazuzupacken. Letzteres wäre nämlich eine bewusste Verfälschung des Texts gewesen. In letzter Konsequenz heißt dieser Punkt: die Textkritik meint, es wurde mehr bewusst verfälscht als schlichtweg falsch abgeschrieben und das überzeugt mich nicht.

Abschreibversehen: Verwechselung ähnlicher Buchstaben, Augensprung etc. werden festgestellt.

Ein Augensprung ist eine Auslassung eines Textstücks, das mit einer bestimmten Buchstabengruppe beginnt und endet. Ein Abschreiber, der sich abschreibend durch die Seite arbeitet, hat also ein Stück Text geschrieben und sucht nun nach dem nächsten abzuschreibenden Textstück und irrt sich, weil das Wort, das er als Aufsatzpunkt sucht, ein Stück weiter im Text auch steht. Er vergisst damit den gesamten Zwischentext. Merkwürdig ist nur, dass hier der längeren Variante der Vorzug gegeben wird, während es gerade vorher geheißen hatte, dass die kürzere Lesart vorzuziehen ist. Wie soll es denn nun sein? Wird die kürzere oder die längere Lesart vorgezogen?

Auch die Buchstabenverwechelungen helfen nicht weiter. Man kann mit Buchstabenverwechselungen erklären, wieso es bei bestimmten Versen zwei ähnliche aber dennoch verschiedene Textvarianten gibt, nur sagt uns das ja leider noch nichts, darüber aus, welcher Variante der Vorzug zu geben ist.

Anders formuliert: Bisher der schlüssigste Punkt aus der Aufstellung von Vanheiden, aber für den konkreten Einzelfall bringt er nichts ein. Aber kommen wir zur Krönung

Lässt sich dem auf diese Weise gefundenen ursprünglichen Text kein befriedigender Sinn entnehmen, ist es berechtigt, auch ohne Anhalt an der handschriftlichen Tradition den ursprünglichen Text zu rekonstuieren.

Da ist doch die Katze aus dem Sack. Statt den biblischen Text nach der Bibel auszulegen, auch dann, wenn er sperrig ist und einem nicht gefällt und man womöglich seine eigene Theologie der Bibel anpassen müsste, ist der Textkritiker also befugt, den Text seinen eigenen Vorstellungen anzupassen. Stellen wir das noch einmal ausdrücklich klar: selbst wenn ALLE Handschriften der Bibel sich einig sind, der Textkritiker aber der Meinung ist, das ginge so nicht, dann kann er sich (so Vanheiden) hinstellen und sagen: der Urtext war anders.

Je mehr ich mich mit der Textkritik beschäftige, desto weniger halte ich von deren Ergebnissen und gerade der letzgenannte Punkt zeigt mir, dass da der Wurm drin ist, und zwar ein großer.