Walter oder was alles aus der Bibel für mich nicht gilt

Nach der Schule habe ich studiert, Elektrotechnik an der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Gewohnt habe ich aber weiterhin bei meinen Eltern. Und so musste ich regelmäßig kurz nach 7 Uhr morgens in Elmshorn am Bahnhof sein. Im Zug lernte ich eines Tages Walter kennen, einen Zeugen Jehovas, der die Bahnfahrt dazu nutzte, die Wachtturm-Literatur zu studieren. Ab und an haben wir uns in der Bahn getroffen und die halbe Stunde bis Hamburg-Altona über die Lehre der Zeugen Jehovas diskutiert.

Walter war damals Mitte 50 und er war schon vor 1975 Zeuge Jehovas geworden. Er verschaffte mir auch Kopien von einigen älteren Wachttürmen aus den 1950ern, die in der ZJ-kritischen Literatur genannt worden waren, und die ich gerne nachprüfen wollte. Es zeigte sich, dass die Zitate korrekt waren. Besonders krass war eine Passage aus dem Buch „Ewiges Leben in der Freiheit der Söhne Gottes“, in dem es um den Unterschied zwischen der „großen Volksmenge“ und den „144.000“ ging. Diese Passage werde ich später noch einmal gesondert behandeln.

Nach einigen ersten Diskussionen (Dreieinigkeit, der Name Jehova, etc, kurz das übliche), waren wir damit auch beim Kern des Problems angelangt, bei DEM Kern schlechthin, bei dem sich die Lehre der Zeugen Jehovas von der der evangelikalen Christen und überhaupt aller (anderen) Christen unterscheidet. Walter (im Einklang mit dem Wachtturm) meinte, dass die „große Volksmenge“ noch nicht gerechtgesprochen ist, dass sie noch nicht Gottes Kinder seien und dass sie sich erst im 1000-jährigen Reich nach Jesu Wiederkunft eintausend Jahre lang bewähren müssten, bis sie ewiges Leben erhalten könnten.

Da half es auch nicht, klare Aussagen aus der Bibel zu zitieren, wie z.B.

Rö 5,1+2 Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir mittels des Glaubens auch Zugang erhalten haben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes.

Hier steht ja klar, dass die Christen schon gerechtfertigt worden sind (Vergangenheit!).Oder wie steht es mit

Joh 3,36: Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm.

Hier ist klar: ich habe durch den Glauben an Jesus Christus schon jetzt ewiges Leben und das ist prima.

Aber Walter stritt das alles ab. Er meinte, dass diese Aussage nur für die 144.000 gelte, und nicht für mich (und  für ihn natürlich auch nicht). Ich wies ihn darauf hin, dass da stand „wer an den Sohn glaubt“. Das war nicht auf die 144.000 eingeschränkt. Aber darauf wartete Walter mit einer abenteuerlichen These auf: die Bibel ist nicht an alle Menschen geschrieben, sondern nur an die 144.000. Auch allgemeine Verheißungen an alle Leser gelten zunächst einmal nur für die 144.000. Andere Menschen könnten daran nur Anteil finden, wenn sie sich eng an die 144.000, sprich: an die Wachtturm-Gesellschaft hielten.

Das ist jetzt mehr als 20 Jahre her. Aber ich verstehe es noch immer nicht. Ich habe seitdem mit mehreren Zeugen Jehovas gesprochen, aber auch sie konnten mir das nicht vermitteln. Warum sollten die Versprechen der Bibel für mich nicht gelten? Warum stehen diese von Walter behaupteten Einschränkungen nicht explizit in diesem dicken Buch, der Bibel, drin? Wenn ich einen Zeugen Jehovas frage: bist Du durch den Glauben jetzt schon gerechtfertigt? Dann sagt er „nein, das bin ich nicht.“ Wenn ich ihm dann diesen Vers zeige:

Römer 5,1: Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus

dann frage ich nochmal: bist Du durch den Glauben gerechtfertigt? Er sagt „nein“. Und dann frage ich: wie steht es um Deinen Frieden mit Gott? Den gibt es nämlich nur durch die Rechtfertigung durch den Glauben. Willst Du mir wirklich sagen, Rö 5,1 gilt für mich nicht? Das Zentrum meines Glaubens? Das gilt für mich nicht? Und Kind Gottes soll ich auch nicht sein? Nein, das überzeugt mich nicht.