Reicht die Bibel allein zum Verständnis des christlichen Glaubens? Oder braucht man dazu den Wachtturm als verbindliche Auslegung?
Die Zeugen Jehovas legen sehr viel Wert auf die Bibel. Und in Gesprächen haben sie mir immer wieder versichert, all ihre Lehre stamme direkt aus der Bibel. So heißt es z.B. im Wachtturm vom 1.12.1995 unter der Überschrift „Wenn die Überlieferung der Wahrheit widerspricht“ (Seite 4):
Überlieferungen, die der Wahrheit widersprechen, gleichen verschmutzten Wasservorräten. Wir können unwissentlich an Überlieferungen festhalten – von einer Generation an die nächste weitergegebene Kenntnisse, Meinungen, Glaubensansichten oder Bräuche -, die in Wirklichkeit durch ein „Teufelszeug“, bestehend aus falschen Ansichten und in die Irre führenden Philosophien, verunreinigt worden sind. Genauso wie verschmutztes Wasser können sie unsäglichen Schaden anrichten, und zwar in geistiger Hinsicht.
Selbst wenn wir meinen, daß die Bibel die uns überlieferten religiösen Ansichten stützt, sollte sich jeder von uns die Zeit nehmen, sie sorgfältig zu untersuchen.
Und am Ende desselben Artikels heißt es sogar:
Hast du den Mut, überlieferte Glaubensansichten, an denen du jahrelang festgehalten hast, aufzugeben, wenn sich herausstellt, daß sie der Wahrheit widersprechen? Beachte die Warnungen. Schütze dich und deine Familie, indem du sicherstellst, daß die Überlieferungen, an die du dich hältst, mit Gottes reinem Wort der Wahrheit übereinstimmen (Psalm 19:8-11; Sprüche 14:15; Apostelgeschichte 17:11).
Hier hat der Wachtturm eindeutig recht. Es ist immer wichtig, sich anhand der Bibel zu vergewissern, ob das, was andere mir als biblische Lehre anbieten, tatsächlich biblisch begründet ist. Ich selbt habe aus der Bibel schon viel gelernt und habe ich wichtigen Dingen alte Überzeugungen hinter mir gelassen. Ich fände es schön, wenn auch die Zeugen Jehovas den Mut hätten, selbst in der Bibel nachzuforschen, ob ihre eigene Lehre auch tatsächlich der Bibel entspricht, oder ob sie sich vielleicht in einzelnen Punkten von der Bibel korrigieren lassen müßten.
In der Praxis scheint die Bereitschaft hierzu aber gering zu sein. Ich erinnere mich noch gut an eine Unterhaltung, die ich vor einigen Jahren mit einem Zeugen Jehovas hatte. Ich hatte ihn gefragt: „Mal angenommen du würdest in der Bibel etwas finden, wo das Gegenteil von dem drinsteht, was der Wachtturm schreibt. Was würdest du tun?“. Er sagte mir er würde
- Mit anderen Zeugen Jehovas nicht darüber sprechen, um kein Aufrührer zu sein.
- Er würde geduldig warten, bis der Wachtturm seine Lehre korrigiert.
- Er würde auf jeden Fall treu zur Organisation (zum „treuen und verständigen Sklaven“) stehen, weil dieser von Gott eingesetzt sei, das Volk Gottes mit geistiger Speise zu versorgen.
Auf meinen Einwand, daß es mir nicht fair erscheinen würde, daß er von mir erwartet, daß ich meine Religion anhand der Bibel überprüfe, während er dazu nicht bereit war, meinte er nur: „Ich habe meinen Glauben überprüft, als ich Zeuge Jehovas geworden bin.“
Ich kann darin nicht die Haltung der Beröer erkennen, die auch in der Literatur der Zeugen Jehovas immer wieder als Vorbild dargestellt werden (Apg 17:10-12)
Sogleich sandten die Brüder sowohl Paulus wie Silas bei Nacht nach Beroa weg, und als diese [dort] angekommen waren, begaben sie sich in die Synagoge der Juden. Diese nun waren edler gesinnt als die in Thessalonich, denn sie nahmen das Wort mit der größten Bereitwilligkeit auf, indem sie täglich in den Schriften sorgfältig forschten, ob sich diese Dinge so verhielten. Daher wurden viele von ihnen gläubig, ebenso nicht wenige von den angesehenen griechischen Frauen und Männern.
Halten wir fest: die Beröer hörten die Predigt von Paulus und Silas, aber sie prüften die Predigt anhand der Bibel. Auch wenn Paulus als Apostel von Jesus beauftragt war, den Menschen die Botschaft von Jesus zu bringen, so haben sie dennoch nachgeprüft, ob es sich so verhielt. Genauso muß sich auch der Wachtturm gefallen lassen, anhand der Bibel geprüft zu werden. Er nimmt ja noch nicht einmal für sich in Anspruch inspiriertes, prophetisches, der Bibel gleichgestelltes Wort zu sein. Und über prophetische Rede heßt es in 1. Thessalonicher 5:19-21 (Elberfelder)
(19) Den Geist löscht nicht aus! (20) Weissagungen verachtet nicht, (21) prüft aber alles, das Gute haltet fest!
Sogar prophetische Äußerungen müssen geprüft werden!
Leider entspricht die Haltung meines Bekannten aber der Haltung des Wachtturms. Es werden nur Menschen, die noch nicht Zeugen Jehovas geworden sind, dazu aufgefordert, ihre eigene Religion anhand der Bibel zu prüfen. Wer meint, die Bibel allein genüge, der wird als Abtrünniger abgestempelt, ja sogar mit dem Teufel verglichen: Ein Beispiel: (WT 15.11.1981, Seite 28, Absatz 14)
Hin und wieder stehen unter dem Volke Jehovas Personen auf, die wie Satan eine unabhängige, kritische Haltung einnehmen. Sie wollen nicht „Schulter an Schulter“ mit der weltweiten Bruderschaft dienen. (Vergleiche Epheser 2:19 bis 22.) Sie bieten dem Wort Jehovas eher eine „störrische Schulter“ (Sach. 7:11, 12). Diese Hochmütigen versuchen, die „Schafe“ von der einen internationalen „Herde“, die Jesus auf der Erde eingesammelt hat, wegzuziehen, indem sie das Muster der „reinen Sprache“, die Jehova in den vergangenen 100 Jahren auf so gütige Weise seinem Volk gelehrt hat, verunglimpfen (Joh. 10:7-10, 16). Sie versuchen, Zweifel zu säen und Arglose von dem reichlich mit geistiger Speise gedeckten „Tisch“ im Königreichssaal der Zeugen Jehovas, wo wirklich „nichts mangelt“, wegzuführen (Ps. 23:1-6). Sie sagen, es genüge, nur die Bibel zu lesen, entweder allein oder in kleineren Gruppen zu Hause. Aber seltsamerweise haben sie sich aufgrund dieses „Lesens der Bibel“ Irrlehren zugewandt, die Geistliche der Christenheit vor 100 Jahren in ihren Kommentaren vertraten, und einige feiern sogar wieder Feste der Christenheit, z.B. den 25. Dezember, an dem die Römer die Saturnalien feierten. Jesus und seine Apostel warnten vor diesen Abtrünnigen (Matth. 24:11-13; Apg. 20:28-30; 2. Petr. 2:1,22).
Dieser Text enthält ein interessantes Eingeständnis. Er redet von Menschen, die Zeugen Jehovas waren, und die dann angefangen haben, selbst die Bibel zu lesen, ohne sich die Auslegung der Bibel vom Wachtturm vorgeben zu lassen. Wer dies tut, steht also in der Gefahr zu entdecken, daß in der Bibel manches anders steht als im Wachtturm.
Das kann doch nur heißen, dass mit den Lehren des Wachtturms einiges im Argen liegt. Oder warum muss es der Wachtturm fürchten, wenn nur die Bibel allein gelesen wird?