Wie haben die Zugvögel den Vogelzug entdeckt?

Vogelzug
Vogelzug

Das Schöpfungsbuch der Zeugen Jehovas (“Das Leben — Wie ist es entstanden? Durch Evolution oder durch Schöpfung?”, 1985) zitiert dreimal aus einem Buch von David Attenborough. Zwei dieser Zitate sind sinnentstellend.

Der Text aus dem Schöpfungsbuch

Im Kapitel 13 („Instinkt — vor der Geburt einprogrammierte Weisheit“) heißt es in Absatz 5 unter der Zwischenüberschrift „Erstaunliche Leistungen der Zugvögel“ (Hervorhebung von mir)

„Den Streckenrekord halten die Küstenseeschwalben. Sie brüten oberhalb des nördlichen Polarkreises und ziehen gegen Ende des Sommers in den Süden, um sich auf dem Packeis in der Nähe des Südpols aufzuhalten, wo dann Sommer ist. Bevor sie in die Arktis zurückkehren, umkreisen sie manchmal den gesamten antarktischen Kontinent. Sie legen so alljährlich ungefähr 35 000 Kilometer zurück. Da in beiden Polargebieten ein reichhaltiges Nahrungsangebot zur Verfügung steht, warf ein Wissenschaftler die Frage auf: „Wie haben sie überhaupt entdeckt, daß es so weit auseinanderliegende Nahrungsquellen gibt?“5 Die Evolution liefert keine Antwort.“

Zitiert wird ein namenloser Wissenschaftler. Erst die Fußnote im Anhang nennt David Attenborough („Das Leben auf unserer Erde – Vom Einzeller zum Menschen – Wunder der Evolution”, erschienen 1979), Seite 184.

Das Zitat ist merkwürdig knapp. Was bedeutet es, wenn ein „Wissenschaftler“ so eine Frage „aufwirft“? Da lohnt sich ein Blick in das zierte Werk.

Wie lautet der Kontext, in dem  der zitierte Satz fällt?

Attenborough schreibt:

Der Energieverbrauch dieser Zugvögel auf ihren Reisen ist gigantisch, aber die Vorteile sind klar. Am Ende eines jeden Wanderzuges können sie ein reiches Nahrungsangebot ausnutzen, das nur ein halbes Jahr lang besteht. Aber wie haben sie überhaupt entdeckt, daß es so weit auseinanderliegende Nahrungsquellen gibt? Die Antwort auf diese Frage scheint zu sein, daß diese Reisen nicht immer so lang waren. Die Erwärmung der Erde am Ende der Eiszeit vor 11000 Jahren bewirkte, daß diese Reisen so lang wurden. Vor dieser Zeit brauchten zum Beispiel Vögel in Afrika nur wenig nach Norden zu fliegen, um die Grenze des Eises in Südeuropa zu erreichen, wo es einige Sommermonate lang Insekten in Hülle und Fülle gab, aber keine ständig dort lebenden Tiere, die sie fraßen. Als die Gletscher zurückwichen, wurden neue Landstriche eisfrei und von Insekten und beerentragenden Pflanzen besiedelt. So konnten die Vögel in jedem Jahr nur Futter finden, wenn sie weiter flogen, bis ihre Reisen sich auf Tausende von Kilometern ausdehnten.

Man kann also gar nicht davon sprechen, dass Attenborough hier „eine Frage aufwerfen“ würde, auf die er keine Antwort wüsste. Es handelt sich lediglich um ein rhetorisches Stilmittel, um eine rhetorische Frage.

Zur Illustration

Die Wachtturmliteratur verwendet dieses Stilmittel selbst reichlich.
Zur Illustration: Im Schöpfungsbuch heißt es in Kapitel 1, Absatz 2

„Haben wir uns aus affenähnlichen Tieren entwickelt?“

Und natürlich wäre es keine angemessene Interpretation dieses Ausschnitts, wenn man meinte, das Schöpfungsbuch würde damit „die Frage aufwerfen“, ob wir Menschen uns vielleicht doch aus Affen entwickelt hätten.

Gegen den Sinn zitiert

Attenborough hat die „Frage“, die ihm hier von den Zeugen Jehovas unterstellt wird, beantwortet. Und das direkt in demselben Absatz. Er hat klar aufgezeigt, wie sich der Vogelzug entwickelt haben könnte. Man mag diese Antwort als Befürworter der Schöpfungslehre teilen oder auch nicht teilen, aber es ist eine Antwort der Evolution: die Reisewege der Zugvögel waren zur Zeit der Eiszeit viel kürzer, damals wurden sie von den Vögeln entdeckt. Mit dem Verschwinden des Eises wurden die Reisewege dann länger.

Damit ist der Kommentar der Zeugen Jehovas „Die Evolution liefert keine Antwort“, definitiv falsch.  Die Autoren des Schöpfungsbuchs müssen das gewusst haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie den einen zitierten Satz gelesen haben und den Satz direkt danach nicht mehr.

Ich kann mir das nur so erklären: Meiner Meinung nach haben die Zeugen Jehovas hier bewusst und vorsätzlich gegen den Sinn zitiert.

Mehr zu problematischen Zitaten in der Wachtturmliteratur hier.

Bildnachweis:

Vogelzug“ von Lanzi aus der deutschsprachigen Wikipedia. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

Mehr zur Zitatpraxis der Wachtturmliteratur hier.